Alter Wein in neuen Schläuchen oder über die Notwendigkeit des Bohrens dicker Bretter
Die Saarbrücker Zeitung berichtet am 11. September 2021 auf der Titelseite des Saarlandteils über ein Projekt des Ministeriums mit der IKK Südwest und der Bundesarbeitsgemeinschaft für Haltung und Bewegung (BAG) berichtet. Ziel ist es, mehr Bewegung in die Grundschulen zu bringen und dadurch die Fitness und die Konzentrationsfähigkeit der Schüler zu verbessern. Hier der Beitrag der SZ: https://dslv-saar.de/wp-content/uploads/2021/09/BewegtePause2021.pdf
Natürlich muss man froh sein für jede Aktion und Initiative zur Förderung der Bewegung in der Schule. Aber man sollte sich im Klaren sein, dass es sich hierbei um alten Wein in neuen Schläuchen handelt.
1995 hat der damalige Kultusminister Prof. Dr. Dieter Breitenbach die Bewegte Schule mit dem Slogan „Es bewegt sich was“ auf den Weg gebracht. Franz-Josef Kiefer hat als Sportreferent am Ministerium die Sache administriert. Herbert Schmolze hat bereits von Anfang an über das LPM Fortbildungsveranstaltungen zu dem Thema durchgeführt.
Bereits im Jahr 1996 berichtet die SZ unter dem Titel „Ein paar bewegte Minuten, die Wunder wirken“ über das neue Projekt des Ministeriums. Den Artikel hatte Martin Lindemann geschrieben, der auch für den aktuellen Beitrag in der SZ verantwortlich zeichnet. Ein Jahr später wurden Grundschullehrer vom Ministerium für Bildung, Kultur und Wissenschaft , dem Sportwissenschaftlichen Insitut und dem LPM zu einer ersten Lehrerweiterbildung an die Universität des Saarlandes eingeladen.
In der Grundschule Völklingen-Geislautern haben 1998 Giesela Fritzen und Gerhard Jahn unter Mitarbeit von Karin Schald und Susanne Bortlisz im Rahmen eines Projekts Materialien für die bewegte Pause entwickelt.
Der Arbeitsbereich Sportpädagogik des Sportwissenschaftlichen Instituts hat 2001 unter Mitarbeit des Lehrteams „Sport in der Grundschule“ (Gerhard Antoni, Herbert Schmolze, Hans-Georg Wendel, Robert Zaske und Klaus Zimmek) eine umfangreiche Broschüre „Es bewegt sich was“ mit Übungsbeispielen auf den Weg gebracht. Diese Broschüre wurde im Jahr 2010 neu aufgelegt. Hier die Broschüre des Ministeriums aus dem Jahr 2010: https://dslv-saar.de/wp-content/uploads/2021/09/Esbewegsichwas.pdf
Im selben Jahr hat die LandesArbeitsgemeinschaft für Gesundheitsförderung im Saarland e. V. (LAGS) eine Broschüre mit dem Titel „Bewegte Schule – Leitfaden zur Bewegungsforderung im Setting (Grund)schule“ herausgegeben. Die Broschüre entstand im Rahmen des Projekts „Mehr bewegen in KiTa und Schule“. Autoren waren Ingrid Paulus und Christian Kaczmarek. Hier die Broschüre der LAGS aus dem Jahr 2010: https://dslv-saar.de/wp-content/uploads/2021/09/Leitfaden_Bewegte-Schule.pdf
Im Jahr 2009 hat die LandesArbeitsgemeinschaft für Gesundheitsförderung im Saarland (LAGS) einen Kongress unter dem Thema „Mehr bewegen in der Schule“ durchgeführt. Hier der Infoflyer von damals: https://dslv-saar.de/wp-content/uploads/2021/09/Fachtag2009.pdf
Es folgte im Jahr 2010 die Fachtagung „Kinder bewegen – Schule verändern“. Hier der Infoflyer von damals: https://dslv-saar.de/wp-content/uploads/2021/09/Fachtag2010.pdf
Bei beiden Veranstaltungen hielt Dr. Sabine Kubesch einen Hauptvortrag zum Thema „Bewegung und gehirngerechte
Entwicklung für Kinder“.
Rund zehn Jahre nach Einführung des bewegten Unterrichts im Saarland haben Nikolia Arvanitis, Stella Arvanitis und Gerrit Sittler im Jahr 2005 eine Untersuchung zur Verbreitung der Idee der täglichen Bewegungszeit an Grundschulen durchgeführt. Zusammenfassend habe ich damals festgehalten:
"Die Idee der täglichen Bewegungszeit ist den meisten Lehrerinnen und Lehrern bekannt. Die Datenanalyse zeigt aber, dass die Realität dem Konzept der täglichen Bewegungszeit hinterher hinkt. Nur 15 % der Kinder kommen in den Genuss von mehr als 15 Minuten zusätzlicher Bewegung. Die Bewegungserziehung wird nicht als eigenständiger Inhalt der Grundschule in ausreichendem Maße gewürdigt." (Wydra, 2009, S. 359)
Die Ergebnisse wurden später der Ministerin Annegret Kramp-Karrenbauer mitgeteilt. Diese hat sie dann im Rahmen einer Schulleiterdienstbesprechung thematisiert und den Stellenwert der täglichen Bewegungszeit herausgestellt.
Die Bedeutung der Bewegung in jedem Lebensalter wird auch durch die Nationalen Empfehlungen für Bewegung
und Bewegungsförderung untermauert. Für Kinder gilt:
„Kinder ab dem Grundschulalter sollen eine tägliche Bewegungszeit von 90 Minuten und mehr in moderater bis hoher Intensität erreichen. 60 Minuten davon können durch Alltagsaktivitäten, wie z. B. mindestens 12.000 Schritte / Tag, absolviert werden.“
Nach Untersuchungen z. B. der DAK (Kinder- und Jugendreport 2018 – Gesundheitsversorgung von Kindern und Jugendlichen in Deutschland) ist der Anteil der Kinder und Jugendlichen, die sich entsprechend den Vorgaben der nationalen bzw. internationalen Empfehlungen genügend viel bewegen, eher als bescheiden anzusehen.
Bei den Nationalen Empfehlungen für Bewegung und Bewegungsförderung werden aber nicht nur Empfehlungen zum individuellen Bewegungsverhalten ausgesprochen. Es werden auch Empfehlungen zur Bewegungsförderung gemacht:
„Die schulische Lebenswelt hat sich als ein zentraler Ansatzpunkt für die Bewegungsförderung von Kindern und Jugendlichen erwiesen. Hier gibt es eine Reihe von Maßnahmen, die ausreichend evidenzbasiert sind. Besonders zu
empfehlen sind demnach Mehrkomponentenansätze, d. h. schulbezogene Interventionen, die verschiedene Maßnahmen der Bewegungsförderung integrieren. Als Einzelmaßnahmen und in Kombination mit anderen Maßnahmen zu empfehlen sind:
(1) die quantitative Erweiterung der Bewegungszeit, d. h. mehr Sportunterricht und mehr Bewegungsangebote außerhalb davon (z. B. Bewegungspausen), (2) die qualitative Verbesserung der Bewegungsangebote (z. B. Optimierung der Bewegungszeit im Sportunterricht durch verbesserte Angebote und Lehrmethoden) und (3) die Kompetenzentwicklung des zur Bewegungsförderung in der Schule eingesetzten Personals (z. B. der Sportlehrerinnen und Sportlehrer).
Speziell im Rahmen von Mehrkomponentenansätzen werden darüber hinaus empfohlen:
(1) die (bessere) Verankerung von Bewegungsförderung im Lehrplan der Schulen, (2) die Schaffung einer bewegungsfreundlichen Schulumwelt (z. B. durch Bewegungsmöglichkeiten über Infrastrukturen, Geräte), (3) die Einbeziehung der Eltern in die Bewegungsförderung ihrer Kinder und (4) die Förderung eines bewegungsaktiven Transports von Kindern zur Schule (in Kombination mit der Involvierung von Eltern und Gemeinde).“
An der Universität des Saarlandes wurden aber mittlerweile dutzende von Lehramtsstudenten mit dem Thema konfrontiert. In den verschiedenen Studienordnungen für das Lehramt an Grundschule ist das Module „Bewegte Schule“ verpflichtend verankert, so dass langfristig mit einer Verbesserung der Situation zu rechnen ist.
Auch das Studienseminar für die Primarstufe hat seit 2002 die Thematik in Form eines allgemeinen Seminars für alle angehenden Grundschullehrer aufgegriffen und versucht, für das Problem zu sensibilisieren. Zu Beginn lag der Schwerpunkt auf Ideen zur täglichen Bewegungszeit, seit 2015 ist das Thema ausgeweitet auf „Mehr Bewegung im Unterricht“.
Zusammenfassend kann man festhalten, dass das jetzt vorgestellte Projekt nichts vollkommen Neues ist. Von Max Weber stammt der berühmte Satz, die Politik sei »ein starkes langsames Bohren von harten Brettern mit Leidenschaft und Augenmaß zugleich«. Das gilt offensichtlich auch für die Umsetzung der Idee der täglichen Bewegungszeit. Der DSLV-Saar hat in der Zeit mit fast allen Kultusministern Gespräche geführt. Alle haben die Bedeutung der täglichen Bewegungszeit dokumentiert. Von daher ist es gut, dass jetzt wieder ein Versuch unternommen wird, um die Idee wiederzubeleben.