Deutscher Sportlehrerverband

Landesverband Saar

Ein Plädoyer für den Sportunterricht

16. März 2023

Nils Neuber und Klaus Zierer in der FAZ: Kinder brauchen nicht nur Deutsch und Mathe, sondern auch andere Zugänge zum Lernen

Das jüngst veröffentlichte Gutachten der Ständigen Wissenschaftlichen Kommission (SWK)der Kultusminister-Konferenz zeichnet ein verheerendes Bild von der Grundschule: Eine wachsende Zahl der Grundschülerinnen und Grundschüler verfehlt die Mindeststandards in Deutsch und Mathematik. 2021 lagen 18,8 Prozent der Kinder unter den Mindeststandards im Lesen, das sind 6,3 Prozent mehr als 2016. In der Orthographie sind es 22,1 Prozent (plus 8,3 Prozent) und in der Mathematik 21,8 Prozent (plus 6,4 Prozent). Zudem haben viele Kinder Probleme, sich sozial kompetent zu verhalten, ihre Emotionen zu regulieren. Die KIGGS-Studie zur Gesundheit von Kindern und Jugendlichen in Deutschland hat ergeben, dass 23,1 Prozent der Sieben- bis Zehnjährigen zur Risikogruppe der psychisch auffälligen Kinder zählen.

Um diese Missstände zu beheben, gibt die SWK 20 Empfehlungen, die von der Implementation von Bildungsstandards über mehr individuelle Diagnose und Förderung bis zu einer Erhöhung der Lernzeiten in Deutsch und Mathematik und einer besseren Qualifikation der Lehrkräfte reichen. Das ist alles gut und richtig – könnte man meinen. Bei genauerer Betrachtung muss man allerdings eingestehen: Es ist nicht zuletzt die gescheiterte Bildungsreform der vergangenen zwanzig Jahre, die das Bildungssystem in diese Situation geführt hat. Sie war getragen von einer Euphorie für Bildungsstandards und Kompetenzorientierung, die die Kernfächer  ins Zentrum rückte. Und sie wird getragen von einer steten Evaluation, um immer mehr Daten zu sammeln. Wenn in diesem Kontext schon Evidenz gefordert wird, dann sind Studien zu nennen, die die Wirksamkeit solcher Maßnahmen unter die Lupe nehmen: Die Nutzung von Daten landet dabei auf einem der hinteren Plätze, wie eine Metaanalyse von Beth E. Schueler und Kollegen aus dem Jahr 2021 zeigt. Ganz vorne steht: Lehrerprofessionalität und Zeit. Aus unserer Sicht brauchen Kinder daher nicht mehr von dem, was sie sowieso schon seit Jahrzehnten bändigt, sondern etwas anderes.

Die Kinder, vor allem die ohnehin schon abgehängten, das sind 20–25 Prozent, brauchen andere Zugänge zum Lernen. Zudem müssen die Defizite der Corona- Pandemie aufgefangen werden. Dazu gehört nicht nur das Aufholen kognitiver Lernrückstände, die mittlerweile in mehreren Studien belegt sind und durchschnittlich einem Lernverlust von etwa 30 Prozent entsprechend. Auch die psychische Belastung ist immens hoch. Mehr als 70 Prozent der Kinder und Jugendlichen leiden noch heute an den Folgen der Corona-Pandemie, wie die Bundesministerien für Familie und Gesundheit jüngst gemeinsam erklärten.

Wichtiger denn je sind deshalb das Erleben in der Gruppe, Spiel und Interaktion, Bewegung und Sport, Kunst und Musik, Naturerlebnisse und handwerkliche Tätigkeiten. Die Kinder müssen Zugehörigkeit und Anerkennung erleben, Selbstwirksamkeit und Erfolg – gerade in der Schule. Das kann beispielsweise über erlebnispädagogische Aufgaben erfolgen, die nur im Team zu lösen sind, oder über intensive Könnenserlebnisse, etwa beim Schwimmenlernen. Letztlich kann der Bildungsprozess nur gelingen, wenn auch die andere Seite der Bildung angesprochen wird. Denn Bildung umfasst nicht nur mathematische, naturwissenschaftliche und sprachliche Kompetenzen, sondern sie zielt immer auf den ganzen Menschen.

Die Pointierung von Ken Robinson, einem der einflussreichsten Pädagogen der vergangenen Jahrzehnte, ist ein zentraler Anknüpfungspunkt: Der Mensch hat seinen Körper nicht nur, damit er damit seinen Kopf spazieren trägt. Denn der Mensch ist mehr als sein Kopf, er ist eine Leib-Seele-Geist-Einheit. Leiblichkeit und Bewegung sind daher Grundprinzipien von Bildung, die nicht hintergehbar sind. Beide entsprechen gerade den Bedürfnissen von Kindern in hohem Maß. Gezielt eingesetzt kann Bewegung zur Kompensation des vielen Sitzens in der Schule beitragen, Wohlbefinden und Gesundheit unterstützen sowie emotionale und soziale Fähigkeiten spielerisch ansprechen. Kleine Spiele auf dem Schulhof oder im Sportunterricht erfordern beispielsweise immer die Abstimmung mit anderen Kindern, das Zurücknehmen der eigenen Person, aber auch das Durchsetzen eigener Interessen. Nicht zuletzt fördern gezielte Bewegungsaktivitäten auch die kognitiven Fähigkeiten der Kinder. So können kognitiv anspruchsvolle Bewegungspausen im Klassenunterricht Konzentrationsfähigkeit, kognitive Flexibilität und Selbstregulation der Kinder fördern. In „Visible Learning“, dem größten Datensatz der empirischen Bildungsforschung, sind allein zwanzig Metaanalysen gelistet, die diesen positiven Zusammenhang bestätigen.

Die Schule von heute braucht also nicht als Erstes mehr Deutsch und Mathematik. Sie braucht vor allem mehr Bewegung. Hierzu zählen bewegungsfreundliche Schulgebäude und -höfe, vielseitige Bewegungs- und Sportangebote im Unterricht

und im Ganztag, bewegte Schulfeste und Klassenfahrten, Bewegungspausen im Klassenunterricht und auch bewegtes Lernen im Fachunterricht. Die Schule in Bewegung zu bringen, bedeutet, die Schule durch eine kindgerechte Rhythmisierung des Unterrichts zu verändern, durch bewegtes Lernen und bewegte Pausen, letztlich auch durch bewegliche Organisationsstrukturen. Das würde nicht nur den Kindern mit Lernschwierigkeiten helfen, einen Zugang zu Deutsch und Mathematik zu finden. Es wäre auch ein Beitrag zu einer Grundschule, die von allen Kindern gern besucht wird.

Nils Neuber ist Professor für Bildung und Unterricht an der Universität Münster, Prof. Klaus Zierer Ordinarius für Schulpädagogik an der Universität Augsburg.

Quelle: FAZ vom 10. März 2023